DER LETZTE SONG DES TURMFALKEN

Wenn ich eine Feder finde, dann…

…dann sinke ich ohne zu zögern in die Gebetshaltung der Moslems (auf die Knie, den Allerwertesten in die Höh´, Stirn und Handflächen auf Bodenfühlung) und bin erstmal voller Demut. Eine Feder zu finden ist für mich immer ein himmlisches Geschenk, das ich dankbar annehme. Meist hebe ich sie auf, betrachte das luftige Symbol für Leichtigkeit, Phantasie und Gelassenheit voller Bewunderung und throne sie andächtig auf einem erhabenen Stein. Ich finde, das hat sie sich redlich verdient. Manchmal nehme ich sie auch mit, um sie zu einem Schmuckstück zu veredeln.

Wenn ich jedoch bei einer Erkundungstour auf dem Georgenberg in Kuchl über das komplette Federkleid eines Turmfalken stolpere, dann habe ich nicht nur aufgeschürfte Knie, sondern…

…dann lege ich mich zuallererst der längs nach vor Ehrfurcht auf den Erdboden. Ich nehme fasziniert jede einzelne zarte Feder in meine groben Hände, säubere sie behutsam von Erde und Staub, streichle sie in ihre ursprüngliche akkurate Erscheinungsform und lasse sie wieder erglänzen und erstrahlen. Nach getaner Maniküre, ordne ich sie gekammpelt und gestriegelt feierlich in eine Reihe und freue mich über diese beflügelnde Begegnung.

Warum bin gerade ich die Auserwählte? Was hat dies für den Rest meines Lebens zu bedeuten? Was will mir das Universum durch die Feder mitteilen? Was hat der Fund mit mir zu tun? Tritt hier das Naturgesetz der Entsprechung in Kraft?

Die viele Fragen bekommen prompt unzählige Antworten direkt aus meinem Inneren.

Der pragmatische Realist in mir erklärt mit nüchterner Miene, dass jeder Anfang ein Ende hat und der Turmfalke wohl bei einem Kampf um Revier oder Beute den kürzeren gezogen hat. Damit bringt er mein sentimentales Herz desillusionierend auf das Fundament der biologischen Tatsachen. Er meint, die Frage, ob die gefundene Federpracht etwas mit mir oder gar meinem Leben zu tun haben könnte, gehört wohl in die Kategorie „esoterisches Hirngespinst“. Dem Turmfalken, den es seit seinem Ableben nicht mehr gibt und der davor von meiner Existenz keinen blassen Schimmer hatte, wäre ich in seiner Vogelsprache ziemlich piepegal. Echt jetzt: Will ich dem empathielosen Typ in mir eigentlich noch weiter zuhören?

Nein! Ich lasse mal die nächste Stimme ertönen:

Der depressive Pessimist in mir meldet sich mit monotoner Stimme traurig zu Wort. Er fühlt sich in seinem Dogma bestätigt, dass das Leben ein perspektivenloser Kampf , sowieso ungerecht und hart ist und letztendlich immer flugs zum Tode führt. Er verbündet sich mental mit dem besiegten Turmfalken, dem vermeintlichen Verlierer, und beschließt erneut in seiner Deprischleife, dass das Leben ja überhaupt keinen Sinn hat.

Na super, das sind ja aufbauende Kommentare.

Aber Himmel Sei Dank gibt es da noch einen wesentlich mitspracheberechtigten Anteil in mir. Die optimistische Naturgeistin in meinem System hat nämlich ihre eigene Meinung. Sie trällert über alle gedachten Grenzen hinweg ihre empfangene Botschaft des Turmfalkens und übertönt damit alle anderen Stimmen in mir:

Wenn der Turmfalke in dein Leben fliegt und dich mit seinem erdfarbenen Federkleid umhüllt, dann ist dies die persönliche Einladung, mit ihm einen Ausflug ins Turmzimmer deiner Seelenlandschaft zu machen. Nimm sein Angebot an – es ist eine rare Chance, die nur Auserwählte erhalten. Dort oben sanft gelandet, staunst du über den unendlich weiten Ausblick und die unzählbar vielen richtigen Sehenswürdigkeiten und Möglichkeiten, die dir das Leben hier unten bietet. Der Greifvogel fordert dich mit seiner Präsenz auf, in der Gegenwärtigkeit zu verweilen und in die Stabilität deiner gemauerten Grundfesten zu vertrauen. Sein Blick durchdringt dein Herz mit authentischer Wachsamkeit und säubert deinen verschleierten Geist mit absoluter Klarheit. Diese Reinheit gibt dir den Blick auf das Wesentliche frei. Das ist der Zeitpunkt, an dem du die Flügel deines Herzens ausbreitest und losgelöst von aller Skepsis und Ausreden in die Richtung deiner Berufung fliegst. Du bist für alles Menschenmögliche und -unmögliche bereit. Du achtest auf die vielen Wolkenbilder und Wegweiser, die dir der Himmel zufallen lässt. Und den ganzen Flug über bleibst du mit der Regenbogenkraft des Turmfalken in deinem Herzen mit Mutter Erde verbunden, damit du den Boden unter den Flügeln nicht verlierst.

Ui, wenn das keine geniale Antwort meiner innewohnenden Hexe ist. Diese Botschaft nehme ich gerne an, denn eines ist gewiß: Eine Hexe kennt sich mit Fliegen aus…!

In diesem Sinne wünsche ich euch allen einen guten Flug in eine federleichte Zeit.
Sandra Leis