KALTE WASSER

Angefangen hat es damit, dass mir ein Freund vor ein paar Jahren erzählte, er ginge alle paar Tage vor der Arbeit in den Bach zum Baden. Es war Jänner und die Wassertemperatur lag um ein Grad Celsius. Es dauerte zwei, drei Jahre, bis diese Information durch mein Unterbewusstsein gedrungen war und schließlich in Form eines Versuchs wieder an der Oberfläche meines Bewusstseins auftauchte. Ich wollte spontan und ohne Plan, also einfach als Experiment sehen, wie es wäre, wenn ich die ausklingende sommerliche Freibadesaison in den Herbst hinein verlängern würde. Mich reizte vor allem der Gedanke zu erfahren, wie lange dies in Richtung Winter für mich möglich sein würde, ohne dass ich das Gefühl bekäme, mir dabei irgendeinen Stress oder gar Leistungsdruck aufzuerlegen. Bei diesem Versuch kam mir sehr entgegen, dass ich in einer Gegend wohne, wo es vor Bächen quasi nur so plätschert. Es gibt da einen großen Bach unten am Talboden, den einen oder anderen Teich und einen großen Stausee. Vor allem aber sind die Wälder von unzähligen Bächen durchzogen, von denen einige schöne Tümpel bilden, die gerade groß genug sind, dass man sich als Ganzes bis zum Hals hineinlegen kann. Es war ein langsames Hinübergehen in eine neue Empfindung. Diese bestand darin, dass ich eine besondere Nähe zu der immer winterlicher werdenden Natur, ja zum Leben selbst zu spüren begann. Anfänglich kam ich mir noch vor, wie ein „Täter“, der etwas Unerlaubtes machte. Mehrmals misstrauisch rundum blickend zog ich mich splitternackt im Wald aus und versenkte meinen Körper im kalten Nass. Ich lag da an einer tieferen, beckenförmigen Stelle eines, meines Baches und beobachtete: das Vorbeistreichen des Wassers entlang meines Körpers, das langsame Eindringen der Kälte, über mir die blattlosen Äste und Baumkronen, um mich herum der schneebedeckte Waldboden, ein empfindsames, verletzliches Wesen inmitten der Natur, durch nichts von ihr getrennt. Das Sonderbare daran war, dass ich von Anfang bis Ende der Prozedur keinerlei unangenehme Kälte, kein Frösteln empfand. Beim Ausziehen, beim Hineingleiten ins Wasser und beim Heraussteigen ebensowenig. Mein nunmehr fast tägliches „Ritual“, zuerst befremdlich, später selbstverständlich, beschert mir eine tiefgreifende Verbindung mit den Elementen und vor allem mit dem Winter. Ich habe Frieden geschlossen, mich mit ihm versöhnt. Mit dem Ablegen der Trennschicht Kleidung und der hautnahen Berührung mit den Elementen ist der von mir immer so stark und teilweise wehmütig empfundene Abschied von der warmen Jahreszeit verschwunden. Es ist ein Annehmen entstanden, eine Liebe zum unvermeidlichen Wechsel in der Natur, und es hat sich das Gefühl der Ganzheit geformt. Die einzelnen Jahreszeiten zeigen sich nicht mehr voneinander getrennt, sondern mit den Anteilen der vorherigen und der nächstfolgenden in Verbindung stehend. Verschwunden ist der innere Widerstand, auch bei rauem Wetter hinauszugehen. Völlig verschwunden sind das Frösteln und das Ausbleiben von sogenannten Erkältungskrankheiten seit Beginn des Experiments. (Das ist wohl auf die durch das regelmäßige kalte Bad verursachte Stärkung des Immunsystems zurückzuführen.)

Fernab meiner Erfahrungen – das Eisbaden boomt. Für jene, die nicht das Glück genießen, einen geeigneten See, Teich oder Bach in ihrer Nähe zu haben, gibt es schon ab ca. € 50,– freistehende Mini-Badewannen für den Balkon zu kaufen. Stilgerechter, weil aus Holz, sind gebrauchte Weinfässer, die ab ca. € 200,– erhältlich sind. Andernfalls tut es auch eine alte Kühltruhe. Und ja, Eisbaden ist therapeutisch wirksam. Gesicherte Studien belegen die frappierenden positiven Wirkungen z.B. bei Depressionen, (chronischen) Entzündungen und verringerter Immunstärke (Autoimmunkrankheiten). Eisbaden wirkt dem zufolge schmerzlindernd, wandelt Körperfett um, macht die Haut lichtdurchlässiger, trainiert das Herz-Kreislauf-System, vermindert das Risiko für Herzinfarkt und Krebs, steigert die Energie in Körper und Geist (leistungssteigernd), regt die Testosteronproduktion an und erhöht somit die Libido beim Mann, führt zu mehr innerer Ruhe und wirkt stressmindernd. Das regelmäßige Verlassen der Komfortzone bewirkt, diese sukzessive zu vergrößern und führt dazu, mentale Stärke zu entwickeln, Herausforderungen besser zu bewältigen. Ein Trainingsaufbau für‘s Eisbaden erstreckt sich über Wochen, beginnend mit eiskalter Dusche von einer bis mehrere Minuten bei den Füßen. Immer ist ein langsames sich Herantasten dem Schocktauchen vorzuziehen. Später gilt die Faustregel: +°C entspricht der Verweildauer im Eisbad in Minuten. Als eines der besten deutschsprachigen Bücher zum Thema gilt „Die Heilkraft der Kälte“ von Josephine Worseck. Unwillkürlich fällt mir zum Thema Eisbaden das Stichwort „artgerechtes Leben“ ein. Wie ich es sehe, ist der Mensch als biologisches Wesen bestmöglich an das Leben unter den gegebenen Bedingungen angepasst. Woran er jedoch (noch?) nicht angepasst ist, sind langer Aufenthalt in Innenräumen mit gleichmäßiger Temperatur und geringer Frischluftzufuhr, Bewegungsarmut vor allem in Form langen Sitzens, Kunstlicht während natürlicher Dunkelphasen, Schuhe, ein kontinuierliches reiches Nahrungsangebot über’s ganze Jahr, übermäßige Hygiene und teilweise damit verbundene Immunschwäche, mentales Übergewicht, Dauerstress und unermüdliches Tun ohne Pausen, soziale Isolation und generelle Naturferne – um nur einiges zu nennen. Mögliche „Therapieansätze“ bei sich daraus ergebenden gesundheitlichen Missständen sind daraus leicht abzuleiten: z.B. regelmäßige, ausgedehnte Bewegung/Sport im Wald, bestmögliche Annäherung an natürliche Rhythmen (Tages- und Jahreszeiten), Pausen, wiederholtes Heraustreten aus der Komfortzone, Baden im kalten Wasser.

Text: Wilfried Bedek
Foto: Sandra Leis